Niemand hätte geglaubt, dass alles so außer Kontolle geraten könnte.
Das Gesicht zu einem hämischen Grinsen verzogen, die vielen Arme unter dem langen Mantel verborgen steht er vor mir. Und ich laufe, schaffe es irgendwie zu entkommen, ringe die Angst nieder und konzentriere mich auf die Flucht. Auch wenn es am Ende vergebens ist. Er wird mich immer und überall finden, wenn er mich riechen kann.
Langsam – siegessicher – folgt er mir. Er muss sich nicht beeilen, er weiß, dass ich mich nicht verstecken kann. Aber ich darf nicht aufgeben, niemals.
Ich laufe in die gläserne Eingangshalle einer kleinen Passage, sehe mich nach einem Versteck um, doch hier ist nichts. Verzweiflung. Ich renne auf zwei Jungs zu, die mir bekannt vorkommen und verstecke mich hinter ihren Rücken, sodass ich die Menschen vor dem Eingang beobachten kann und nach dem einen Ausschau halten kann, der kein Mensch ist.
Und da kommt er. Doch er ist nicht allein. Neben ihm steht eine Krakenfrau. Wo kommt sie her? Auch sie überragt die übrigen umherhastenden Menschen, völlig unwissend ob der Gefahr, in der sie sich befinden. Doch er hat es auf mich abgesehen. Die übrigen Menschen interessieren ihn nicht. Und nun hat er Hilfe bei seiner Jagd.
Plötzlich bleibt der Krake stehen. Was soll das, denke ich, will er jetzt etwa noch mit mir spielen? Sich an meiner hoffnungslosen Hoffnung laben und mir dann meine Freiheit und schließlich mein Leben nehmen? Oder... kann er mich wirklich nicht mehr riechen? Doch der Krake geht weiter. Jetzt muss sie sich ein Stück weiter um die beiden Jungs herum drehen, damit er mich von seiner neuen Position nicht sehen kann. Wieder bleibt er stehen, diesmal kurz vor der Schiebetür, die den Eingang zur Passage verschließt. Erneut setzt er seinen Weg fort. Die Schiebetür öffnet sich und der Krake kommt durch sie hindurch, direkt auf mein Versteck zu. Hastig sehe ich mich um, doch ich sitze in der Falle. Nach hinten wird die Passage von einer großen Glaswand abgeschlossen und von vorne kommt der Krake langsam auf mich zu. Es bleibt mir nichts, als zu hoffen, dass er mich nicht sieht. Lächerlich, denke ich, selbst mit verbundenen Augen könnte er mich anhand meines Geruches aufspüren. Trotzdem schlüpfe ich rasch unter den Arm des einen Jungen, und mache mich so klein wie ich kann. Der Krake bleibt genau vor den beiden Jungen stehen und betrachtet eine Weile den Arm. Mein Herz klopft unregelmäßig und schnell. Er muss es einfachen hören, jeder in dieser Halle muss es hören können, wie es von den Wänden wiederhallt. Doch dann geht er weiter und verschwindet.
Hat er mich wirklich nicht gesehen? Egal. Ich muss weg, soweit ich kann. Ans andere Ende der Welt, irgendwohin, wo ich noch leben kann. Ich renne und renne, so schnell es geht, in Richtung Bahnhof und weiter, an ihm vorbei. Dort wo alles begann.
Ich renne den Bahnsteig entlang, parallel zu den Schienen, renne weiter auf den breiten Gleisanlagen.
Der Bahnhof liegt nun schon ein ganzes Stück hinter mir. Doch es reicht nicht, noch kann der Krake mich spielend leicht finden. Ich laufe.
Ein Stück entfernt, vor mir, steht ein Mann auf den Schienen, schaut mir hinterher,als ich an ihm vorbei renne, so schnell mich meine Füße tragen, immer Richtung Horizont, auf das Ende der Gleise zu.
Jemand rennt hinter mir her. Es ist der Krake. Bestimmt ist er es. Ich darf mich nicht umschauen, er darf mich nicht bekommen. Ich laufe. Ich werfe einen Blick über die Schulter. Es ist nicht der Krake. Es ist der Mann. Und er kommt näher. Sie war immer die Schnellste im Laufteam ihrer Schule, ungeschlagene Meisterin. Er würde sie nicht kriegen. Siegessicher nimmt sie Kurs auf den mit Bäumen besetzten Wall, der links von den Schienen, auf der Seite des Bahnhofs verläuft. Er verfolgt sie, er will sie fangen. Er ist böse.Wie der Krake.
Ich renne, doch ich kann hinter mir seine schnellen Schritte und seinen keuchenden Atem immer näher kommen hören. Plötzlich springt er mich von hinten an und reißt uns beide zu Boden, drückt mein Gesicht auf den harten staubigen Boden. Doch ich gebe nicht auf, ringe mit ihm, reiße mich beinahe los, dann werde ich wieder zu Boden gedrückt.
Schließlich bleibe ich liegen. Ich habe nicht mehr die Kraft mich zu wehren. Schweiß brennt in meinen Wunden, vermischt sich mit dem Staub der hellbraunen Erde. Aber es sind nur kleine Verletzungen und werden mir bei meiner Flucht nicht im Weg stehen.
Doch dann stellt er mich aufrecht vor sich hin, meine Schultern mit beiden Händen fest gepackt. Fest blicke ich ihm in die Augen, noch hat er nicht gewonnen.
Da erkenne ich, dass er anders ist. Er ist nicht böse. Er sieht mich nur an, hält mich fest, damit ich nicht wieder davon laufen kann.
Er mustert mich. Meine langen Haare habe ich unter einer schwarzen Kappe versteckt, meine Haut ist schmutzig und meine Kleidung zerschlissen. Jetzt erst, als er mir in die Augen schaut, erkennt er, dass ich eine Frau bin.
Er will mir die Kappe vom Kopf nehmen, doch ich halte sie entschlossen fest. Egal wie stark er auch daran reißt. Da nimmt er seine eigene Mütze vom Kopf und hält sie mir hin. Sie ist blau und von vielen Stunden unter freiem Himmel ausgeblichen, doch ich erkenne sie sofort.
„Weißt du, was das ist?“, fragt er mich.
Natürlich weiß ich das! Am liebsten würde ich ihm eine schlagkräftige Antwort geben, aber ich bekomme einfach keinen Ton heraus.
„Das ist von der Army“, sagt er, als ich nicht antworte.
„Amerika?“ Er nickt. Wieder hält er mir die Mütze hin und diesmal nehme ich sie. Sie ist aus festem, derben Stoff gemacht und fühlt sich vertaut an.
Ich nehme meine eigene Mütze ab und meine langen Haare fallen auf meine Schultern hinab. Schnell setze ich die blaue Kappe auf, verberge meine Haare wieder darunter und gebe ihm meine.
Ich weiß, auch er ist auf der Flucht und er wird bei mir bleiben. Ich habe endlich jemanden an meiner Seite, dem ich vertrauen kann, einen treuen Freund. Doch als ich in seine Augen sehe, erkenne ich noch so viel mehr in ihm. Ich weiß, dass wir zusammen gehören, ich spüre es, denn ich habe mich noch nie jemandem so nahe gefühlt.
Ich mustere ihn genauer. Er hat braune, kurze Haare und einen Drei-Tage-Bart. Seine Augen läuchten von innen heraus – ein Gemisch aus eisblau und grün. Er ist bestimmt schon über zwanzig und vier oder fpnf Jahre älter als ich, aber das ist mir vollkommen gleichgültig.
Gemeinsam erreichen wir rennend den Wall mit seinen schützenden Bäumen. Wir erklimmen den Rücken der kleinen Erhöhung und können gerade auf den Wald auf der anderen Seite sehen, da merken wir, dass jemand hinter uns am Fuß des Walls steht. Mit einem unguten Gefühl im Bauch drehe ich mich um. Es ist der Krake und er hat eine Waffe auf mich gerichtet.
So leise wie möglich, damit der Krake es nicht hören kann, flüstere ich meinem Gefährten neben mir zu: „Wenn ich jetzt sage, renn!“
Wir befinden uns beide in der Hocke, da springe ich auf, renne los und rufe: „Jetzt!“ In diesem Augenblick fällt ein Schuss. Ist er getroffen? Bitte, bitte, bitte nicht! Ich renne weiter, höre niemanden hinter mir. Er ist nicht da, wird mir klar, er rennt nicht mit mir auf die rettende Ruine eines alten Hauses zu. Und ich weiß, er ist tot.
Doch als ich bei der Ruine angekommen bin, steht plötzlich der Krake hinter mir, ich sehe auch die Krakenfrau, nun ein Mensch.
Er befiehlt ihr, mich gefangen zu nehmen und zu seinem Haus zu bringen, wo er mich zur Frau nehmen will.
Und dann werde ich sterben.
Allein auf dieser Welt, auf der niemand mein Schicksal kennt, verlassen vom einzigen Mensch, dem ich vertrauen kann, den ich liebe, wird das letzte, was ich sehe, das hämische Grinsen des Krakens sein.
Die Frau legt mir Fesseln um, nimmt mir mein letztes, kostbarstes Gut: meine Freiheit. Ich habe alles verloren. Ich weiß nur, dass ich nie aufgeben werde. Ich werde immer wieder entkommen, auf der Flucht sein, auch wenn es hoffnungslos ist.
Das ist mein persönlicher Albtraum.