Samstag, 23. Juli 2011

Freitag, 22.07.2011: Aus den Tagebüchern eines Mörders – Heute ich, morgen eine Mörderin

Was würdest du tun, wenn auf einmal um dich herum der Krieg ausbrechen würde? Wenn der Himmel über dir herabstürzt, die Fluten alles mit sich reißen: Dein Leben, dich selbst und deine Zukunft? Du bist vollkommen unvorbereitet, die blanke Panik in dir. Angst, so viel Angst. Und über allem liegt der Schleier der Verzweiflung.

Auch ich war verzweifelt, auch wenn das eigentlich nicht auszudrücken vermag, wie ich mich wirklich gefühlt habe.. Gerade eben war ich noch bei H&M gewesen, beim Sommerschlussverkauf, und hatte sogar ein oder zwei Teile erbeutet, obwohl ich doch immer so wählerisch war. Und dann? Als das Geräusch von vielen, vielen Hubschraubern zu hören war, blieben alle stehen, wie gebannt, und suchten den Himmel ab. Es schob sich der Erste hinter einem Hochhaus hervor, er hielt genau auf den Platz zu, auf dem ich stand. Plötzlich waren überall panische Leute, alle schrien und liefen um ihr Leben, denn allen war klar, dass diese fliegenden Ungeheuer nicht gekommen waren, um ihre Flugkunststücke vorzuführen. Ich sah, wie ein Kind unter den blinden Tritten der Massen starb. Nur ich blieb stehen, wie fest gewachsen.
Das konnte nicht wahr sein. Das passierte nicht wirklich, nur ein Traum. Ich würde aufwachen und mich ärgern, dass ich ihn schon wieder nicht unter Kontrolle bekommen hatte. Ich würde auf die Uhr sehen und aufstehen, um mich anzuziehen, obwohl es noch viel zu früh war. Weil ich wissen würde, dass ich nach einem solchen Traum sowieso keine Ruhe mehr finden würde. Aber das war kein Traum.
Als die Hubschrauber das Feuer eröffneten und die ersten Menschen getroffen von den rennenden Massen verschluckt wurden, rannte ich. Ich wusste nicht wohin, aber die Angst ließ mich laufen. Mir liefen die Tränen über's Gesicht, ich wollte weg. Ich wollte einfach nur weg, aufwachen. Ich wollte nicht sterben, ich konnte nicht... glauben, dass das wirklich passierte. Trotzdem rannte ich. Ich lief in ein Geschäft und versteckte mich hinter dem Tresen. Hier musste ich einfach sicher sein, ich konnte nicht wirklich sterben. Und doch hatte ich solche Angst. Todesangst. Panik.
Männer sprangen aus den Hubschraubern und schossen um sich. Jeder Treffer eine Freikarte für den Tod.
Nur der Eine, der war ganz allein für mich bestimmt, oder besser: Ich war ganz allein für ihn bestimmt. Er war groß und dunkelhaarig und hatte nichts Menschliches in den Augen. Er beachtete die Anderen gar nicht, und obwohl er keine Uniform, sondern nur ein weißes Leinenhemd trug, wurde er kein einziges Mal auch nur von einer Kugel gestreift. Er hatte kein Maschinengewehr, nur eine einfache Pistole in der Hand. Er brauchte kein Maschinengewehr, um mich umzubringen; und das genügte ihm. Während ich ihn auf mich zukommen sah, schien alles um mich herum zu verstummen und die Welt ohne mich weiter zudrehen. Ohne mich und den Mann. Die Zeit blieb stehen, nur er und ich, wir gingen weiter. Wir rannten.
Ich blieb einfach da hocken, in meine Ecke gedrückt. Es hätte keinen Sinn gemacht, wegzulaufen. Es gab keinen Weg hier raus. Und er hätte mich ohnehin eingeholt. Als er über mir stand und mir in die Augen sah, verzerrte sich sein Gesicht vor Hass. Ein Hass, der keinen Gedanken zulässt, jeden Anflug von Menschlichkeit im Keim erstickt.
Was hatte ich getan? Was hatte ich ihm getan? Ich hatte diesen Mann noch nie zuvor in meinem Leben gesehen. Und doch hasste er mich so sehr, so unglaublich stark, dass er mich tot sehen wollte. Ich wusste irgendwie, dass er mich nur für das hasste was ich war, nicht dafür, wer ich war. Aber dennoch war es ihm aus unerklärlichen Gründen wichtig, genau mich umzubringen.
Er kam noch näher und setzte mir die Pistole auf die Brust, ganz langsam. Meine Angst überschlug sich, es war eine unbeschreibliche Panik in mir. Und dann stach aus dem Chaos der Verzweiflung plötzlich ein einziger Gedanke klar und deutlich hervor:

„Ich will nicht sterben. Ich will nicht sterben. Ich will verdammt nochmal nicht sterben!“

Ich griff nach der Pistole und drehte sie weg von mir, versuchte sie irgendwie in die Finger zu bekommen, bevor er abdrücken konnte, doch er war viel stärker als ich. Berge von Muskeln spannten sich an seinen Armen und ich hatte keinerlei Chance.
Aber ich wollte nicht sterben. Und dieser Gedanke war so stark, dass ich die Pistole zu ihm hin drehen konnte, bis sie ihm aus der Hand fiel. Ich griff nach der über den Boden rutschenden Waffe und richtete sie auf ihn. Ich stieß ihn um – wehrlos, wie er nun war, bis er auf dem Boden lag, so wie ich zuvor. Ich sah ihm in die Augen.
Ich drückte ab.
Nichts passierte. Immer noch sahen wir uns in die Augen, er fast erwartungsvoll. Ich suchte nach diesem Riegel-Dingens zum Entsichern und drückte wieder ab, ohne auch nur eine Sekunde zu warten. Diesmal gab es einen lauten Knall und der Mann sank zu Boden. Er war sofort tot und ich sofort weg. Ich brauchte nicht noch einen Blick in seine leeren Augen werfen. Nicht noch einen Blick in dieses maschinengleiche Gesicht.
Ich rannte. Rannte aus dem Laden und so schnell ich konnte durch das Kampfgetümmel. Überall roch es nach Tod, der der Wut der fremden Männer Ausdruck verlieh. Ich rannte, dachte nicht an die anderen Menschen. Ich rannte mit der Waffe in der Hand und mein wirklich einziger Gedanke, war nach Hause und in Sicherheit zu kommen. Einmal stolperte ich fast über die Leiche einer bis zur Unkenntlichkeit zertreten Frau, die noch immer ihr schreiendes Baby im Arm hielt. Ein Soldat schoss ihm ins Gesicht und es war still.  
Ich rannte weiter, weg von diesem Ort, den es nicht geben durfte. Nicht geben konnte. Wir lebten im 21. Jahrhundert. In Deutschland, mitten in der Zivilisation! Da gab es so etwas nicht, nein!
Ich lief über die Brücke und wich den Kugeln vorbei rennender Soldaten aus, lief einfach. Ich bog links von der Brücke ab und rannte weiter am See entlang. Den Weg, den ich morgens immer mit dem Fahrrad fuhr. In einer anderen Welt.
Ein paar Mal musste ich mich im Gebüsch verstecken, weil mir Soldaten entgegen kamen. Dann kam keiner mehr, ich war weit genug vom Herd des Kampfes entfernt. Bald würde ich zu Hause sein.
Da hämmerte es mir wie eine Faust ins Gesicht, was ich die ganze Zeit aus meinem Kopf zu verdrängen versucht hatte:
Ich hatte einen Mann getötet. Ich hatte ihn umgebracht, ermordet. Ich hatte ihm sein Leben genommen, seine Zukunft, die Chance auf Liebe. Ich hatte ihn seiner Familie geraubt und seinen Freunden ein Loch in die Brust gerissen. Ich hatte ihn erschossen. Ohne zu zögern, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken. Jetzt war er tot.
Und dass ich abgedrückt hatte, um mich selbst vor dem Tod zu bewahren, machte es nicht besser. Ich war eine Mörderin.
Mörderin.
Ich, Leyla Lee.

Man Down - Rihanna

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