Samstag, 26. März 2011

Donnerstag, 24.03.2011: Birkensamen und Grashalme

Ich lächle und ich schreie.
Alle sehen das Lächeln, doch niemand hört meine Schreie, lautlos, denn da ist keine Luft. Keine Luft den Schall zu transportieren. Keine Luft zum Atmen.
Ich liege am Boden, ein Gefangener meiner selbst. Ich möchte meine Fesseln zerreißen, zerschneiden, zerbeißen und weglaufen. Aber ich kann die Fesseln nicht erreichen, um sie zu zu zerstören, denn sie halten mich zu fest. Es ist ein Teufelskreis. Ich kann ihm nicht entfliehen, ohne eine Veränderung, einen Einschnitt. Etwas oder jemanden der mir hilft.
Und so bleibt alles, wie es immer war, wie es immer sein wird. Ich liege hier, doch niemand sieht meine Fesseln, nur ich kann sie fühlen. Sie sehen auf mich herunter, sehen mein Lächeln und gehen beruhigt weiter, ohne zu bemerken, was in Wirklichkeit vor sich geht.
Und ich liege immer noch hier. Sehe sie von oben auf mich herunterschauen, sehe sie an mir vorbeiziehen. Manchmal legt sich einer zu mir, aber nicht für lang. Und alle stehen sie wieder auf, alle. Sie vergessen, wie es sich anfühlt, auf dem Boden, der kalten Erde zu liegen, sie vergessen die Hilflosigkeit und sie vergessen mich. Dann bin ich wieder allein mit mir selbst.
Und genieße es irgendwie. Denn wenn ich nichts tun kann, wenn ich atemlos bin, dann brauche ich niemanden, der mir sagt, er könnte mich verstehen, ohne überhaupt zu wissen, worum es geht. Ich nehme es hin, wie es ist, weil nichts anderes in meiner Macht steht.
Und ab und zu, wenn neben meinem Ohr ein neuer Grashalm aus dem Boden ploppt, oder ein Birkensamen auf meiner einsamen Nasenspitze landet, dann bilde ich mir ein, dass es etwas gibt, das mir die Macht gibt, etwas zu verändern, alles gut zu machen, endlich glücklich zu werden. Doch dann trampelt einer von ihnen auf den Grashalm, weht der Wind den Samen einem anderen zu. Und mit meinen Hoffnungsträgern, die eigentlich ja doch nichts hätten ändern können, schwindet auch die Hoffnung selbst...

Sonntag, 20. März 2011

Sonntag, 20.03.2011: Stell dir vor...

Stell dir vor, du lebst in der Zukunft, in einem anderen System. Es garantiert dir ein 80 Jahre langes, gesundes und harmonisches Leben. Aber dafür gibt es auch strenge Regeln, an die sich alle bedingungslos halten, ohne Fragen zu stellen. Du kommst immer pünktlich zur Schule, hast deine Hausaufgaben, bist immer freundlich, trägst genau die gleiche Kleidung wie alle anderen und befolgst alle Anweisungen. Stell dir vor, dein Leben ist komplett für dich durchgeplant, deine Entscheidungsmöglichkeiten sind – nun ja, sagen wir „begrenzt“. Dein Essen wird dir nach Hause geliefert, immer genau zu der festgelegten Uhrzeit. Morgens, mittags, abends. Genau die Menge an Essen und Nährstoffen, die du im Moment benötigst. Es ist nicht erlaubt, mit anderen zu teilen und Kuchen oder andere Leckerreien siehst du nur alle Jubeljahre. Stell dir vor, du treibst regelmäßig Sport, läufst ganz genauso lange und nicht schneller, als die Computerstimme dir sagt; immer auf einem Laufband, denn in der Öffentlichkeit ist es untersagt zu rennen. Stell dir vor, du hast keinen eigenen Besitz, abgesehen einmal von einem Artefakt, einem Erbstück, das sich Puderdose nennt. In deinen genau festgelegten Freizeitstunden spielst du mit den anderen in der Spielhalle, einem öffentlichen Treffpunkt, denn niemand darf das Haus einer anderen Familie betreten. Eine eigene Uhr hast du nicht und lesen könntest du sie sowieso nicht. Du misst die Zeit nicht, sie wird für dich gemessen und in Form von Lautsprechersignalen an dich und die anderen weitergegeben. Stell dir vor, nach Beginn der Sperrstunde verlässt keiner mehr das Haus. Stell dir vor, die Gesellschaft hat vor langer Zeit alle überflüssigen Dinge vernichtet und stell dir vor, es existieren nur noch die 100 wertvollsten Gedichte, Musikstücke, Geschichtslektionen und Gemälde. In der Schule lernst du nur, was du später auch wirklich brauchst, von den anderen Sachen hast du keine Ahnung. Du schreibst auf einem Schreibcomputer, einen Stift hast du noch nie gesehen und Schreibschrift ist dir ebenfalls unbekannt. Stell dir vor, du hast noch nie ein Bild mit echter Tusche gemalt. Stell dir vor, mit 17 Jahren wirst du deinen optimalen Partner zugeteilt bekommen und ihn kurz darauf kennen lernen, mit 21 werdet ihr heiraten und bis zum Alter von 31 Jahren die vorgegebene Zahl Kinder bekommen. Deine Arbeit wird dir nach deinen individuellen Stärken zugewiesen. Stell dir vor, mit 70 Jahren gehst du in den Ruhestand, um dann mit exakt 80 Jahren im Beisein deiner Verwandten und Freunde an deinem Geburtstag zu sterben. Vorher wird man dir eine Gewebeprobe entnehmen und sie aufbewahren, um dich später, wenn die Wissenschaft es ermöglicht hat, zu neuem Leben zu erwecken.

Ist das noch ein Leben?

Samstag, 19. März 2011

Samstag, 19.03.2011: Vernunft ist es, die mich vom Leben abhält

Ich sitze in der Küche auf meinem Stuhl und höre mir eine dieser nicht enden wollenden Predigten über irgendeine Kleinigkeit an, die eigentlich für uns alle unwichtig ist. Ich lasse meine Schuldsprechung über mich ergehen, die sie machen, ohne mich überhaupt anzuhören. Sie bilden sich ihre Meinung schnell und behalten sie für immer. Manchmal haben sie Recht, aber meistens übertreiben sie. Doch das spielt keine Rolle, denn sie sind immer von der Richtigkeit ihrer Worte überzeugt und das ist das einzig relevante für meine Strafe. Ich sitze da auf meinem Stuhl, auf dem ich immer sitze, und höre mir alles an, antworte auf jede Frage und sage zu allem ja und amen, denn meine Meinung, oder die Wahrheit sind unbedeutend. Ich lasse mich beschuldigen und beleidigen, ohne je etwas zu erwidern. Ich lasse mich anschreien, ohne je zurückzuschreien. Ich behandle ihre Wahrheit als wahr, ohne je zu vergessen, dass sie es nicht ist. In mir, hinter der Mauer, die sie nicht umgehen, nicht überspringen, nicht untergraben und nicht zerstören können, behalte ich meinen Widerstand, meine Wahrheit, meine Gedanken, meine Wut und all' die Schreie für mich. Ich senke den Blick in Demut, damit sie es nicht sehen. Und später, wenn ich in meinem Zimmer am Fenster sitze und es draußen so dunkel und so friedlich ist, trockne ich meine Tränen und frage mich, warum ich nicht los geschrien habe.

Vernunft ist es, die mich Ja sagen lässt, wenn ich Nein meine.


Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und stehe schnell auf, bevor der Wunsch in mir überwiegen kann, liegen zu bleiben. Dann taumele ich hinüber zum Lichtschalter und kneife die Augen zusammen, als mich die Helligkeit in die Augen sticht. Ich öffne den Kleiderschrank und versuche mich darauf zu konzentrieren, ein halbwegs gutes Outfit zusammenzustellen. Jeans, das schwarze T-Shirt, dazu eine dunkelblaue Kapuzenjacke und die Stiefel, die ich gestern Abend noch geputzt habe. Ein stinknormales Outfit, ein Tag wie jeder andere. Ich seufze und will den Schrank gerade wieder schließen, als mein blick auf den Rock fällt. Aus einem plötzlichen Impuls guter Laune heraus, lege ich die Jeans zurück und greife stattdessen nach dem Rock, er ist pink und reicht mir bis zu den Knien. Er ist aus den 80-ern, von meiner Mutter, und hat eines dieser elastischen schwarzen Bänder an seinem oberen Ende und unter ihm ragt ein schwarzer Unterrock hervor. Außerdem steht er ein bisschen ab und wenn man sich dreht, dann schwingt er so schön mit. Ich will hin gerade anziehen, als meine Gedanken zurück zur Schule wandern und mir klar wird, dass ich den Rock vielleicht doch besser nicht anziehen sollte. Ich meine, es werden mir bestimmt alle komische Blicke zuwerfen, die Jungs werden komische Bemerkungen machen und die Mädchen werden mir sagen, wie toll sie meinen neuen Rock finden, aber hinter meinem Rücken über meinen Stil ablästern. Also hänge ich den Rock, und mit ihm meine gute Laune, in den Schrank zurück. Später frage ich mich, warum ich den Rock nicht trotzdem angezogen habe.

Vernunft ist es, die mich zum Durchschnitt macht.


Ich mache meine Hausaufgaben – wie jeden Tag. Und frage mich, wozu ich später einmal wissen muss, wie die van der Waals-Kräfte und die Kettenlänge der Moleküle zusammenhängen. Ich meine, wenn ich später Musikerin werde, dann wird mich wohl keiner einen Auftrag davon abhängig machen, ob ich weiß, wie man das Volumen eines Kegels oder eine bestimmte Spannung berechnet. Zum Kotzen, wirklich. Aber trotzdem sitze ich jetzt hier am Schreibtisch, anstatt Musik zu hören oder Gitarre zu spielen und löse die Aufgaben so gut ich eben kann. Wenn ich am nächsten Tag im Unterricht dann meine Hausaufgaben heraushole und ich wieder kein einziges Mal dran gekommen bin – außer natürlich bei der einen Aufgabe, die ich nicht verstanden hatte, dann frage ich mich, wozu ich sie überhaupt gemacht und meine Zeit damit verschwendet habe, wenn ich das Fach sowieso abwähle und niemanden je wieder die Note dieses einen Halbjahres interessieren wird.

Vernunft ist es, die mich lernen lässt, was ich nicht brauche.


Die Sonne lacht auf mich herunter und schenkt mir einen neuen Tag. Ich laufe und habe Lust meine Schuhe auszuziehen und den heißen Beton unter meinen Füßen zu spüren, doch ich tue es nicht. Als ich weiter zum See gehe, sehe ich auf einmal zwei Jungs auf der Brücke stehen. Sie klettern über das Geländer und springen dann ohne zu zögern. Sie fallen und für einen Augenblick sieht es aus, als würde ihr Fall nie enden, doch dann durchschneiden sie die Oberfläche und das Wasser schlägt über ihnen zusammen. Einen Herzschlag später tauche sie lachend und prustend wieder auf. Als ich über die Brücke gehe, bleibe ich einen Moment stehen, will schon über das Geländer klettern, besinne mich dann aber eines Besseren und laufe weiter. Als ich in den Schatten der schützenden Bäume trete, durchflutet mich ein Glücksgefühl. Die Sonne scheint durch die Blätter der Baumdächer über mir und macht ihr Grün heller. Die Erde hier ist noch feucht und kleine Käfer krabbeln zwischen den Blättern des Herbstes auf der Suche nach irgendetwas, dass für die Menschen so unwichtig scheint, dass sie es nicht wissen. Ich möchte los rennen, möchte mit den Vögeln singen, doch ich tue es nicht. Eine Fahrradfahrerin überholt mich und ein genervter Hundebesitzer zerrt an der Leine seines Lieblings, der gerade sein Geschäft an einem Baum verrichtet. Als ich später meinen Schlüssel ins Schloss stecke und die Haustür aufschließe, frage ich mich, warum ich all' das nicht getan habe.

Vernunft ist es, die mich nicht von der Brücke springen lässt.


Ich drehe durch! Sie drückt jetzt schon mindestend zehn Minuten ununterbrochen auf ihrem bescheuerten Kugelschreiber rum. Klick-klick-klick. Ich gebe mir große Mühe, mich nicht zu ihr umzudrehen und sie anzublaffen, sie soll endlich mit dem Scheiß aufhören. Sie würde beleidigt spielen und eine halbe Stunde später wieder damit anfangen. Sie legt sie den Kugelschreiber weg, endlich. Ich atme erleichtert auf und will ihr gerade verzeihen, als ich neben mir das Klick-klick einer Füllerkappe höre. Klick-klick. Klick-klick. Ich habe sie schon tausendmal gebeten damit aufzuhören, aber entweder interessiert es sie nicht, oder sie denkt einfach nach ein paar Minuten nicht mehr daran, nicht mehr an andere Menschen. Schließlich ist sie ja auch die Beste. Klick-klick. Aber es gibt eine Menge Dinge, von denen sie keine Ahnung hat. Dazu gehört zum Beispiel, dass sie nicht weiß, dass solche Dinge existieren. Klick-klick. Sie bildet sich ein, sie wäre leidenschaftlich, doch sie ist ein Kopfmensch. Sie bildet sich ein, sie wäre allen überlegen – klick-klick - nur weil sie die besten Noten hat und die Hausaufgaben immer macht, aber sie macht nichts außer Lernen. Klick-klick. Sie fühlt sich wie ein Rebell, der gegen die Normen der Gesellschaft so ist, wie er ist, dabei ist sie eine Kopie, eine Kopie die gefallen will, und sie verschwendet keine Sekunde daran, einmal ehrlich zu sich selbst zu sein und darüber nachzudenken, wer sie wirklich ist. Klick-klick. Ich dreh' am Rad! Aber wenn ich ehrlich zu mir bin, dann ist das Klick-klick nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ihre Ignoranz, Heuchlerei und Arroganz kotzen mich an. Klick-klick. Warum sage ich ihr das eigentlich nicht?

Vernunft ist es, die mich davon abhält, zu sagen was ich denke.


Ich sehe ihn an. Dieser Junge. Er ist so viel, dass es mir Angst macht. Würde er die Entscheidung treffen, mich fallen zu lassen, sei es aus einer Laune heraus, er könnte mein ganzes Leben zerstören. Dieser Junge. Ich könnte sagen, ich liebe ihn, doch das würde es nicht ganz treffen. Denn es ist mehr. Dieser Junge. Und jedes Mal, wenn er sich tagelang nicht meldet, wenn er mir nur seine Oberfläche zeigt und ich weiß, da ist noch mehr, das er mir nicht erzählt. Dieser Junge. Dann habe ich Angst. Die Angst krampft mich zusammen, krampft sich mein Herz zusammen. Und wenn es sich wieder entspannt, dann jedes Mal ein klein bisschen weniger, als es sich zuvor angespannt hat. Dieser Junge. Er zerstört mein Empfinden. Und zu wissen, das Gefühl, es ist da. Das reicht nicht. Und während ich vor meinem Handy sitze und mich frage, was er gerade Wichtigeres zutun hat, als mir eine SMS zu schreiben, frage ich mich, warum ihm nicht völlig unvernünftig vertrauen, ihn nicht völlig unvernünftig lieben kann, auch wenn ich weißdass er mich fallen lassen wird.

Vernunft ist es, die meine Gefühle erstickt.


Ich könnte jetzt – genau jetzt, nicht morgen, nicht übermorgen, sondern genau jetzt – meine Gitarre nehmen und in die Stadt fahren. Ich könnte mich in die Fußgängerzone stellen und anfangen zu spielen. Ich könnte anfangen zu singen. Warum tue ich es nicht?

Vernunft ist es, die meine Leidenschaft belächelt.