Das kleine blaue Säckchen hatte meine Mutter mir einmal gekauft, als wir in einem Laden gewesen waren, der Perlen und allerlei Dinge verkaufte, die afrikanische Arbeiter von Hand machten. Es gab dort Blechflugzeuge aus Coca Cola-Dosen,Seidenschals, Holzarmreife, Handtaschen aus Caprisonne-Packungen und allerlei anderes Zeug. Sie hatte es gesehen und mich gefragt, ob ich nicht eines haben wolle. Natürlich habe ich nicht nein gesagt, wer sagt schon nein zu einem Geschenk. Aber ich kann mich erinnern, dass ich zunächst sehr enttäuscht war, denn ich wollte viel lieber eines der Flugzeuge, oder zumindest eine Muschelkette haben. Doch meine Mutter hatte klare Vorstellungen und ließ sich nicht erweichen. Entweder eines dieser merkwürdigen Beutelchen, oder eben nichts. So hielt ich nur wenige Minuten später, als wir den Laden wieder verließen, ein dunkelblaues Säckchen mit Streifen in einem etwas helleren Blauton in Händen. Wieder zu Hause legte ich das Säckchen in irgenteine Schublade, wo es für die nächsten anderhalb oder zwei Jahre vergessen wurde.
Erst als ich wieder den Drang verspürte, mein Zimmer von vorne bis hinten komplett umzukrämpeln und alles unnötige, seit längerem nicht mehr beachtete oder sogar vergessene auszusortieren, stieß ich wieder auf das Säckchen. Seine blose Erscheinung reichte jedoch nicht aus, mich an seinen Inhalt zu erinnern und so wickelte ich die helle Schnur, die es verschloss, ab und kippte seinen Inhalt auf meinem Bett aus. Entgegen fielen mir sechs winzig kleine Püppchen, keines größer als drei, das kleinste von ihnen gerade zwei Zentimeter. Ein jedes bestand aus zwei Holzstückchen, das eine etwas kürzer und so über das längere gelegt und festgeschnürt, dass sie zusammen ein Kreuz ergaben. Sie waren bekleidet mit einem Stück Schnur, das um ihre immer gestreckten Arme und ihren Oberkörper gewickelt war und einem langen Rock, der ihre nicht existierenden Füße und Beine verdeckte. Ihre Haare waren alle von dem selben dunklen Braun – fast schwarz – und alle kurz. Augen blickten darunter hervor, ein Mund, nur ein schwarzer Punkt – vor Schreck geweitet? Insgesamt machten die Sorgenpüppchen einen etwas kläglichen, aber auf beängstigende Weise liebenswerten Eindruck.
Ich konnte sie einfach nicht dem blauen Müllsack überlassen, der da so drohend in der anderen Ecke meines Zimmers stand; das hatte ich wohl von meinem Vater. Ich konnte in seiner Anwesenheit nie einen Schokoladenweihnachtsmann essen, ohne mir anhören zu müssen, was für ein bedauernswertes Schicksal ihn doch ereilte; und war er einmal nicht da, wenn ich einen von ihnen auf so grausame Weise verspeiste, so musste ich trotzdem weinen, denn ich war schon immer sehr gut dazu in der Lage gewesen, mich in die Position anderer hineinzuversetzen. Aber hey, es war eigentlich immer nur Schokolade und die Sorgenpüppchen waren auch nur eine Ansammlung von Holz und Stoff, von der ich schon vergessen hatte, dass sie sich überhaupt in meinem Besitz befand. Aber wer weiß, vielleicht wäre ohne sie wirklich alles anders gekommen.
Für alle die es nicht wissen: Sorgenpüppchen erzählt man seine Sorgen, damit diese sie mit sich tragen und man selbst von ihrer Last befreit ist. Aber so genau wusste ich nicht mehr, wie man mit ihnen umgeht und so glaubte ich daran, dass sie meine Sorgen nicht nur aus meinem Kopf verbannen, sondern auch lösen konnten.
Immer wenn ich mich in einer Situation befand, in der ich nichts in meiner Macht stehende tun konnte, um sie zu meiner Zufriedenstellung zu entscheiden, holte ich eines meiner Sorgenpüppchen aus dem blauen Säckchen und bat es um seine Hilfe. Ich legte dem Stück Holz, mit Stoff umwickelt, meine Probleme und Gefühle im kleinsten Detail dar und schilderte meine Hilflosigkeit. Abschließend erklärte ich ihm die Art der Lösung, die ich mir erhoffte.
So geschah es auch an dem Abend, an dem ich die Sorgenpüppchen wiederentdeckt hatte. Es ergab sich nämlich, dass ich zu jenem Zeitpunkt schrecklichen Liebeskummer hatte. Eine Ungewissheit brachte mich um den Verstand, zerris mich zwischen der Stimme, die mir riet, all meinen Mut zusammenzunehmen, ihm alles zu sagen, zu erklären und einer anderen Stimme, die mir Vorsicht gebot, aus Angst davor verletzt zu werden und den letzten Keim der Hoffnung erstickt zu sehen, die ich mir noch erhalten hatte.
Ich vertraute also dem Sorgepüppchen alles an und bat es um baldige Gewissheit über die Gefühle meines Geliebten, egal welcher Art sie auch sein mochten.
Hatte ich über ein Jahr zwischen Mut und Angst, Ungewissheit und Hoffnung geschwankt, so brachte mir der Morgen nach meiner Konferenz mit dem Püppchen endlich die Gewissheit, die ich mir erbeten hatte, war sie auch anderer Art als erhofft. Aber es hatte funktioniert.
Nicht immer stellte sich die Lösung für mein Problem so rasch ein, wie hier in meinem Beispiel, ich kann mich aber an keinen Fall erinnern, in dem ich mehr als zwei Wochen gewartet hätte. Und das ist, im Vergleich dazu gesehen, wie lange ich vorher oft gewartet hatte, doch wohl eine relativ überraschende Leistung für ein Stück Holz. Aber auch meine Sorgen waren in diesen zwei Wochen wie vergessen und stellte sich auf einemal die Lösung für mein Problem ein, so kam mir erst später wieder meine Bitte in den Sinn.
Der Grund für diese überaus lange Erzählung und mein Bekenntnis zu dem Glauben an die Macht eines Stück Holzes, welches wohl peinlich genug ist, findet sich in einer weiteren Bitte, die sich an eben jenem Tag, Sonntag, dem 12.12.2010, auf den dieser Eintrag datiert und welcher nebenbei gesagt mein Namenstag ist, erfüllte – dieses Mal jedoch nicht zu meinem Unglück, sondern zu meinem größten Entzücken.
Seit mehreren Monaten habe ich meinen ersten Freund, Ian. An einer anderen Stelle werdet ihr mehr über ihn erfahren, es reicht zu sagen, dass er überaus liebenswert, aufrichtig und von einer ehrlichen, wenn auch eher zurückhaltenden Natur ist. Entgegen dem was man bei einem Zusammentreffen mit mir vielleicht vermuten würde, bin ich immer wieder recht unsicher, vertraue nicht auf mich selbst. Ich gebe nicht viel auf die Meinung mir nahezu Fremder, die mich durch ihre Kritik an meinem Charakter zu kränken suchen, allerdings ist mir die Meinung der Personen, die mir besonders nahe stehen und die ich besonders schätze, auch sehr wichtig. Sie sollen meinen Charakter nicht prägen, durch ihre Vorstellungen von einer perfekten Persönlichkeit, aber einen gewissen Einfluss auf mich haben sie wohl dennoch. Es ist schwer zu sagen, was ich hiermit ausdrücken möchte, ich kann nur versuchen zu vermitteln, dass ich keinesweg sagen möchte, dass ich mich von anderen formen oder verändern lasse. Aber in der ersten Zeit, in der ich mit Ian zusammen war, kannte ich ihn noch nicht ausreichend, um wirklich mit der Ausdauer seiner Gefühle rechnen zu können und eine Angst beschlich mich immer wieder, wenn ich mit ihm zusammen war, oder wenn ich abends im Bett lag, er könnte eine bisher unbekannte Eigenschaft meiner entdecken, seine Vorstellung von mir würde nicht bestätigt und seine Zuneigung zu mir, oder besser zu dem Bild, was er sich von mir errechnet hatte, bis er mich richtig kennenlernte, würde hierdurch zerstört, noch in ihrem zarten Anfang erstickt werden.
Diese Angst klammerte sich an mich, ich hatte Angst ihn zu verlieren, Angst genau das zu erleben, wovon ich so oft gelesen, worüber ich sooft gesungen hatte, ohne wirklich zu wissen, was damit gemeint war. Doch für den Moment hat diese Angst ihren Griff gelockert und das ist wohl das Werk der Sorgenpuppe, die ich vor etwa einer Woche unter mein Kopfkissen legte und mit dem Wusch beseelte, ich möge bald über die Gefühle Ians Klarheit gewinnen.
Zwar schenkte er mir keine Blumen, weder kniete er vor mir nieder und holte eine schwarze Samtschatulle heraus und schlug auch nicht vor, sofort abzuhauen, nach Australien oder sonst wohin – egal. Aber ich weiß, das seine Gefühle von einer ehrlichen und tiefen, ungekünstelten Art sind. Sein ganzes Verhalten, seine Worte und Andeutungen, die Zeit, die er mit mir verbringt und wie er sie mit mir verbringt, seine Geduld und Nachsicht, seine Angst, er könnte mich verschrecken, durch eine übereilte Handlung, die er so übertreibt, seine Gefühle, seine Lieder, alles was er mir anvertraut; all das hätte es mir auch schon früher zeigen können. Aber an diesem Sonntag war es besonders deutlich. Ich weiß nicht mehr genau, wie wir darauf kamen, aber er sagte, er könne sehr schlecht seine Gefühle ausdrücken, und dass, wenn es für mich an der Zeit wäre, ein Ende zu setzten, ich schon bereit sein müsste, ihm das selber zu sagen. Dass er zugab, Probleme mit der Äußerung seiner Gefühle zu haben, beruhigte mich insofern, dass er mir bisher noch nie seine Zuneigung eingestanden hatte. Sicherlich hatte er ans Ende einer Sms oder einer Nachricht bei SVZ eine Beteuerung seiner Gefühle gesetzt, doch geschriebene Worte, die jedoch nicht ausgesprochen werden, machen, vor allem wenn sie von solcher Wichtigkwit sind, nur unglücklich. Ich erwiderte, dass ich es hassen würde, über das Ende zu reden. Der Gedanke daran, während ich in seinen Armen lag, in einem solch glücklichen Moment, trieb mir die Tränen in die Augen. Als ich ihm dies erklärte, sagte er, dass das Ende noch weit weg sein möge, dass wir vielleicht noch in vielen Jahren zusammen sein würden, verheiratet. Ich war an diesem Tag sehr albern und ich ermutigte ihn immer wieder, mich zu tadeln, sollte ich ihm zu sehr auf die Nerven gehen. Aber er schien es garnicht zu bemerken. Er bezeichnete mich als nicht halb so albern wie er es sei und suchte auch meinen anderen Bedenken ein Ende zu setzen.
Wahrscheinlich habe ich in meiner Erzählung den entscheidenden Punkt vergessen, doch auf jeden Fall sehe ich jetzt klarer. Er ist wirklich ernsthaft in mich verliebt. Jetzt kann ich anfangen, meine Angst entgültig loszulassen und ihm vollends zu vertrauen – falls ich das in irgenteiner Hinsicht noch nicht tun sollte. Und es macht mich glücklich, auch sein Vertrauen wachsen zu spüren. Eines Tages wird er mir vielleicht das Geheimnis seiner traurigen Lieder enthüllen, an einem anderen wird er wieder so albern sein, wie er es tatsächlich an diesem Sonntag war und mir erklären, dass er sonst nie so ist, auch nicht vor seinen Freunden und am darauffolgenden mir seine Liebe erklären.
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