Ich weiß nicht, was genau ich erwartet hatte, auf jeden Fall war es etwas vollkommen Anderes gewesen. Ich stämmte mich gegen die Tür und versuchte meine Gitarre und mich hindurchzubugsieren, ohne irgendwo anzustoßen, oder von der zurückschwingenden Tür erfasst du werden. Als wir heile hindurch waren, sah ich mich noch einmal um und zog im letzten Augenblick eine der gefühlten achtzehntausend Tüten zurück, die um mein linkes Handgelenk hingen und in denen sich meine gesamte Shoppingausbeute befand. Ich hatte zuvor in der Stadt schon wieder viel mehr Geld ausgegeben, als ich eigendlich gewollt hatte. Aber was will man machen, wenn man seinen Traum-Ballerinas begegnet? Und dann auch noch runtergesetzt. So eine Gelegenheit sollte man nicht verstreichen lassen, vor allem wenn es die ersten Ballerinas sind, die einem je wirklich gefallen und dann auch noch passen. In der Tüte direkt neben diesem unglaublichen Paar Schuhe befand sich eines von diesen gelben „Verbotenen Schildern“ mit der Aufschrift: „Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten“. Ich hatte es gesehen und dabei sofort daran denken müssen, wie überaus hilfreich es wohl sein mochte, wenn meine Geschwister mal wieder nervten (also immer). Vielleicht sollte ich es mir gleich als Kette um den Hals hängen, dann müsste ich noch nichtmal mehr den Rm heben, um darauf zu deuten. Wirklich Angst hatte ich aber eigendlich nur um die empfindlichere DVD und die beiden CDs in den Tüten daneben gehabt. Der Film war ein Schnäppchen gewesen. Fünf Euro für „Hangover“ – einen der lustigsten Filme, die ich je gesehen hatte. Ich würde ihn gleich heute Abend mit zum DVD-Abend bei Sarah nehmen. Die eine CD enthielt den Soundtrack von „Die Blues Brothers“, einem Film, den ich sehr mochte, vielleicht weil ich ihn schon seit meiner frühen Kindheit mindestens einmal im Jahr zusammen mit meinem Vater geschaut hatte und es einer der wenigen Filme war, die wir beide mochten und immer wieder zitierten. Die andere CD war von Pink.
Als ich nun also erfolgreich das Hindernis Tür gemeistert hatte, stand ich erstmal einen Augenblick da uns schaute mich in „Der Gitarrenladen“ um. (Ich hatte vorhin schon über den Namen grinsen müssen. Diese Kreativität!) Überall von der Decke hingen Gitarren. Konzertgitarren, Westerngitarren, in einer Ecke sogar einige E-Gitarren und E-Basse, an einer Wand verschiedene Dinger, die etwa die Größe einer Ukulele hatten, aber wie kleine E-Gitarren aussahen. Und das alles in allen Farben, Formen und Größen. Auf der linken Seite des Geschäftes war ein Thresen auf dem das reinste Chaos herrschte. Da lagen alle möglichen Werkzeuge, Stifte, Zettel, Aufsteller mit Gitarrenpolitur, eines von diesen alten schwarzen Telefonen, daneben ein moderneres Telefon und noch allerlei Krimskrams, dem ich keine weitere Beachtung schenkte und nicht mehr benennen kann. An der Wand dahinter standen verschiedene Glasschränke, auf denen ein altes Radio stand und in dessen Innerem sich dutzende kleine Pappkästen stapelten. Der Aufschrift nach enthielten sie Saiten. Genau das was ich brauchte.
Neben dem Thresen standen zwei Männer. Zunächst dachte ich, sie gehörten beide zum Personal, dann verabschiedete sich jedoch der eine Mann und verließ das Geschäft. Der andere kam auf mich zu und fragte mich, was er für mich tun könne. Obwohl er wahrscheinlich erst Mitte vierzig war, wurde mir klar, dass ich mir einen deutlich jüngeren Mann an seiner Stelle vorgestellt hätte. Vielleicht Mitte zwanzig. Aber als ich ihn genauer betrachtete, erkannte ich trotz des ergrauenden Haares etwas hinter seiner Hornbrille, das mich an einen Rockstar erinnerte. Er hatte infach eine ganz besondere Ausstrahlung. Und die passte genau zu seinem Laden.
„Ich brauche neue Saiten“, sagte ich.
Er nahm meine Gitarrentasche und bat mich, auf eine Ecke mit bunten, alten Sesseln hinter einer Säule in der Mitte des Geschäftes zeigend, doch Platz zu nehmen, es werde etwas zehn Minuten dauern. Doch kaum hatte ich meine Einkäufe und meine Tasche auf einen der rosanen Plüschsessel gelegt, konnte ich auch schon nicht mehr still sitzen. Ich musste einfach sehen, was jetzt geschehen würde. Zunächst schnitt der Rocker die Saiten alle durch. Das war nicht schön und hätte ich nicht gewusst, dass das nur zu ihrem besten war, ich wäre sofort dazwischen gegangen. Nein, es war grausam.
Aber wie um uns zu beweisen, dass er rein friedliche Absichten hatte, holte er eine Art Schmirgelpapier aus einer überfüllten Schublade im dem Thresen und begann damit über den Hals meiner Gitarre zu fahren. Dann kam er hinter dem Thresen hervor und wühlte in einer Schublade am anderen Ende des Raumes, die nicht ganz so sehr überfüllt war. Er sprühte eine klare Flüssigkeit auf den Hals und fuhr fort, ihn zu putzen. Ein göttlicher Duft nach Zitrone – aber tausend Mal besser als normales Putzmittel – stieg mir in die Nase und machte mich alle Gräueltaten an meiner Gitarre vergessen.
Das Telefon klingelte und der Rockstar legte sein Werkzeug beiseite, putzte sich seine Hände an einem Tuch ab und griff dann – zu meiner Überraschung – nicht nach dem modernen, sondern nach dem antiken schwarzen Telefon, dass sogar noch eine Wählscheibe hatte. Er sah mein erstauntes Gesicht und lächelte mir amüsiert zu. Wahrscheinlich bekam er solche Reaktionen öfter zu sehen. Aber das Telefon schien wirklich zu funktionieren, denn er sprach ein paar Worte, bevor er wieder auflegte. Dann wandte er sich wieder meiner Gitarre zu.
Ich sage immer „meine Gitarre“, obwohl das eigentlich nicht ganz richtig ist. Das heißt, sie gehört nicht mir, sondern dem Freund meiner Mutter, Andy. Natürlich habe ich auch eine eigenen Gitarre, die ich zu Weihnachten bekommen habe, aber das ist eine Westergitarre und zum Unterricht nehme ich daher immer Andys klassiche Gitarre mit. Ich sage nur immer „meine Gitarre“, weil uns inzwischen eine ganz besonders enge Beziehung verbindet. (Außerdem hat sie denselben Geschmack wie ich und spielt lieber andere Sachen, als die Übungen für den Unterricht zu machen.)
Der alte Rockstar mit Hornbrille zog also eine Saite nach der anderen auf und erklärte mir sogar, wie ich es am besten machen konnte, damit ich es beim nächsten Mal selber machen könnte.
Als er fertig war, berechnete er mir nur vier Euro neunzig für die kompletten Saiten und drei Euro für das Aufziehen, aber da ihn sowieso noch einen neuen Gitarrenständer brauchte, wurden am Ende doch noch zehn Euro mehr daraus.
Als ich alle achtzehntausend Tüten und taschen wieder erfolreich um meinen arm gehängt, meinen schal angezogen und meine gitarre wieder sicher und mit frischen Saiten in ihrer Retro-Look-Tasche verstaut hatte, die mindestens schon so alt wie die Gitarre selbst war, machte ich mich auf den Weg zur Tür und war fast ein bisschen traurig, den Laden schon wieder verlassen zu müssen.
„Vielleicht könnte ich in den Sommerferine ein Prakitkum hier machen“, überlegte ich. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was ich machen könnte, aber keine Lust, die zwei Wochen, in denen mein Freund (und die meisten meiner Freunde vermutlich ebenfalls) nicht da war, nur mit lange schlafen, lesen und gammeln zu verbringen. Ich hatte schon über das Tierheim nachgedacht, aber ich hatte auch gehört, dass dort keine Prakitkanten genommen wurden. Und falls dem wirklich so war, was sprach dann dagegen mein Wissen in Sachen Gitarren ein wenig aufzubessern? Auch wenn es nur eine Woche war, würde es sicher nicht langweilig werden.
Wieder zu Hause angekommen, musste ich mich beeilen, denn ich hatte nurnoch ein paar Minuten, bis ich zu einem Vorstellungstreffen mit einer Familie fahren würde, die einen neuen Babyitter suchte. Trotzdem nahm ich mir, nachdem ich hastig einen Teller mit Reiß und Soße vom Vortag hinuntergeschlungen hatte (meine Familie war ins Schwimmbad gefahren, aber ich war wegen dem Treffen da geblieben), die Zeit alle meine Errungenschaften auszupacken, von ihren Preisschildern und Verpackungen zu befreien und ihnen, nachdem ich sie nocheinmal alle genauestens untersucht hatte, einen platz zu suchen. Nur die Verpackungen ließ ich – über den Boden und mein Bett verstreut - liegen. Inmitten der Tüten, Kassenbons, abgrissenenPreisetikette und Plastikverpackungen viel mir ein Zettel ins Augen, der nicht zu dem übrigen Müll passte.. Es war ein hastig abgerissenes Stück kariertes Papier, auf das ein unglaublich schönes Auge mit Bleistift gezeichnet war. Ich kannte mehrere Leute, die wirklich gut zeichnen konnten, aber so etwas schönes hatte ich nur sehr selten in meinem Leben gesehen.
Ein Mann hatte es mir geschenkt. Er war ein Inder gewesen, oder zumindest glaube ich das, denn seine langen Haare kamen mir dafür sehr ungewöhnlich vor. Er hatte vor mir an der Kasse in Karstadt gestanden und einen karierten Collegeblock gekauft. Dabei hatte er meine Gitarre gesehen und mich, nachdem ich bezahlt hatte, angesprochen.
Zunächst hatte ich mich etwas unwohl gefühlt. Erst vorhin war ich von einem dunkelhäutigen Mann in C&A angesprochen worden und er hatte mich gefragt, wie es mir gehe und wie mein Name sei. Auch der Zeichner sprach überwiegend auf Englisch mit mir, versuchte sich aber auch ab und an mit ein paar abgehackten und verdrehten Sätzen Deutsch.
Er fragte mich sehr genau über meine Gitarre aus, was es für eine sei, wie lange ich schon spielen würde und an welcher Musikschule ich Unterricht hätte. Dafür interessierte er sich besonders. Er wollte sogar wissen, wie viel meine Stunden kostesten und wie lange sie dauerten. Er erklärte, er hätte selber eine Gitarre, könne aber zu seinem Bedauern fast garnicht spielen, dafür aber Zeichnen, das hätte ihm sein Vater beigebracht.
Dann bedeute er mir, ihm zu folgen und bevor ich etwas sagen konnte, lief er in Richtung Schreibwarenabteilung davon. Wir kamen an der Tür vorbei - dem Ausgang - und für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, einfach so durch die Tür abzuhauen und draußen in der Passage im nächsten Geschäfft hinter einem hohen Kleiderständer zu verschwinden. Er hätte es nicht gemerkt, zu spät jedenfalls erst, denn er war mir bereits mehrere Meter vorrausgeeilt.
Doch ich konnte nicht. Ich weiß, das hört sich jetzt unglaublich naiv an, aber er machte auf mich nicht den Eindruck, dass er ein Perversling sei, der junge Mädchen von seinen Bildern erzählte und dann unter irgendeinem Vorwand in eine dunkle Seitengasse zu lockte, um sie zu vergewaltigen. Er sah auch nicht wie ein Stalker aus, oder jemand, der sich im Internet als vierzehnjähriger Sven ausgibt, der gerne skatet und für alles zu haben ist.
Er wirkte ehrlich auf mich. Auch wenn ich weiß, wie dumm sowas sein kann.
Ich folgte ihm also, denn irgendwie tat er mir leid, bei dem Gedanken, dass er sich umdrehen würde und ich verschwunden war, einfach so, ohne ein Wort, ohne dass er mir irgendeinen Anlass dazu gegeben hätte.
Es siegte also die Seite in mir, die glauben wollte, dass er ein vollkommen harmloser, aber einsamer Künstler war, der sich – in einem fremden Land – weit weg von seiner Heimat, nach jemandem sehnte, der mit him redete, wenn auch nur für ein paar Minuten und der ihn nicht mied, weil er anders aussah.
Er war vor einem Aufsteller mit verschiedenen Bleistiften stehen geblieben. Daneben, auf einem dieser Testblöcke, sah ich ein wunderschönes Auge, viel schönes, als alles was ich bisher gesehen hatte.
Der Zeichner erklärte mir, dass er lange Zeit nicht gezeichnet habe und nun wieder damit beginnen wolle. Er zeigte mir einige Fotos von seine Werken auf einem alten Handy. Es waren alles farbige Portäts. Von Mädchen, Fußballstars, Frauen, die neben ihrem eigenen Abbild standen. Und jedes einzelne wunderschön.
Er riss den Zettel mit dem Auge ab, drehte ihn um und schrieb auf die Rückseite die Adresse seiner MySpace-Seite. Er bat mich, sie mir anzusehen und mir, wenn ich wollte, ein Foto zu schicken, dass er für mich abmalen könnte. Kostenlos, sagte er, denn er verlange nie Geld für seine Porträts, er wolle nur wieder anfange zu malen und suche nach den richtigen Objekten.
Ich schrieb ihm den Namen der Musikschule auf, bei der ich Unterricht hatte, dann verabschiedete ich mich und ging.
Ihr werdet mich vermutlich auslachen, wenn ich euch sage, dass ich ernsthaft mit dem Gedanken spiele, ihm ein oder zwei Fotos zu sxhixken. Ich könnte sie ja zusammen mit einer Freundin von einem öffentlichen Platz abholen. Und dann würde ich ihn nie wiedersehen. Ich müsste ihm noch nichtmal mein E-Mail-Adresse geben. Er wirkte aber nunmal wirklich nicht gefährlich, irre oder pervers auf mich. Und ich habe schon viele Leute ignoriert, die mich angequatscht haben.
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