Noch am selben Abend, dem Abend des 6. Januars 2010, schrieben wir wieder über MSN und er fragte mich, ob wir uns vielleicht mal treffen wollten. Ich sagte zu, denn wenn ich eines in meinem Leben gelernt habe, so ist es, jemanden niemals nach einem ersten Urteil abzuhaken – schon gar nicht, wenn man noch nie ein Wort von Angesicht zu Angesicht miteinander geredet hat. Wir machten also ein Treffen ab, doch wie die folgenden Male auch, sollte einer von uns absagen – sei es weil er eine Schulveranstaltung hatte, seine Oma Geburtstag feierte, ich Chorprobe hatte, oder nach vielen Wochen meinen Vater wieder sah. Immer kam etwas dazwischen – und vielleicht, oder sogar sehr wahrscheinlich war auf beiden Seiten auch ein bisschen Feigheit der Grund. Irgendwann glaubten wir wohl beide nicht mehr daran. Wir gaben es auf und schließlich schrieben wir auch nicht mehr.
Doch eines Tages schickte er mir eine Nachricht bei SchülerVZ, ob wir uns nicht doch noch einmal treffen wollten, um uns endlich kennenzulernen. Ich sagte nicht nein, wer tut das schon, wenn die Aussicht auf ein Gelingen doch sowieso sehr gering ist. Doch siehe da: einige Wochen nach den Sommerferien – am 14.08.2010 - saß ich gegen 17 Uhr vor dem Dom und wartete darauf, dass er mir doch noch absagen würde. Ich glaubte wirklich bis zur letzten Minute daran. Und wenn er schon nicht absagen würde, dann würde er einfach gar nicht kommen. Doch kurz nachdem die Glocken fünf geschlagen hatten, kam er. Ich erinnere mich noch, er stand auf der anderen Straßenseite, eine Bahn trennte uns noch voneinander. Ich wusste sofort, dass er es war, Ian, obwohl ich ihn ganz anders in Erinnerung hatte. Obgleich ich ernsthaft befürchtete, mein Herz könnte gleich aus meiner Brust springe – so doll schlug es – sprang ich auch und ging auf ihn zu. Die Straßenbahn für weiter, er setzte seinen Weg fort. Und sah mich. Ich denke, auch er wusste, dass ich ich war, auch wenn er mir nachher erzählte, dass er sich mich ganz anders vorgestellt hatte. Mir viel nichts anderes ein und da ich es mit allen so machte, umarmte ich ihn zur Begrüßung und tat, als wäre ich keines Wegs beunruhigt, meine Zunge könnte sich gerade in Luft aufgelöst haben.
Über den folgenden ersten Teil unserer ersten richtigen Begegnung kann ich heute noch lachen. Die erste Stunde rannten wir nämlich, unter dem Vorwand nach einem Café zu suchen, kreuz und quer durch die Stadt, und das im wahrsten Sinne des Wortes 'rannten'. Wir liefen, blind und als wären wir auf der Flucht, hatten keine Ahnung, was wir reden sollten und begrenzten uns daher auf die Themen, über die wir schon miteinander geschrieben hatten. Über unsere Familien, unsere Hobbies und unsere Haustiere. Er hatte übrigens einen Hund.
Auch wenn ich wirklich keinen blassen Schimmer habe, wie wir es geschafft haben – irgendwann saßen wir dann doch draußen vor Starbucks und nippten an unseren heißen Schokoladen. Ich war immer noch rot, weil die Verkäuferin eine Bemerkung gemacht hatte, als sie mitbekommen hatte, dass Ian sich bei mir erkundigt hatte, was ich nehmen würde, um das gleiche zu wählen. Natürlich bezahlte er nicht – wir kannten uns schließlich erst seit einer Stunde – aber ich muss sagen, dass es vielleicht gerade deshalb gut von ihm gewesen wäre. Es hätte mich auf jeden Fall beeindruckt. Wir saßen also noch bis sechs Uhr dort draußen und weil die Sonne nicht mehr über die hohen Häuser schien, wurde es allmählich kühl. Daher beschlossen wir, zum Fluss zu gehen. Und dort verbrachten wir die nächsten drei Stunden. Zunächst war ich noch nervöser und mein Rücken verspannte sich – das war unerträglich. Schließlich saßen wir gerade auf einer Bank nebeneinander und beobachteten einen Sonnenuntergang und das 'Kraftfoods'-Zeichen, dass sich langsam um sich selbst drehte – ihr müsst zugeben, dass ist schon extrem romantisch. Doch ich wollte mich noch nicht entscheiden müssen, ob ich etwas von ihm wollte – ob ich ihn überhaupt je wiedersehen wollte. Deshalb erzählte ich ihm also von meiner Kindheit, allen Meerschweinchen, die ich je gehabt hatte, ihr Todesursachen inklusive, und von Gott und der Welt. Und ich muss sagen, er wurde mir zusehends sympathischer, als ich feststellte, dass er mir nicht nur aufmerksam zuhörte, sondern auch ernsthaft auf meine, im Nachhinein leicht peinlichen Erzählungen, antwortete und sogar themenbezogene eigene Erfahrungen schilderte.
Nach der ersten Stunde am Fluss – es war gerade sieben Uhr – begann ich mich zu fragen, wie lange so ein erstes Date wohl für gewöhnlich dauerte und ob er nicht langsam etwas angenervt von mir war. Aber als er nach einem Wink mit dem Zaunpfahl meinerseits keine Anstalten machte, sich zu erheben, gab ich es auf und meinem Schicksal hin. Und von da an verflog die Zeit mit ungekannter Geschwindigkeit. Wir redeten und redeten und redeten.
Ich erinnere mich noch genau, dass an unserer Bank neben vielen anderen Leuten auch ein Pärchen vorbei lief. Die Frau schien eine leichte Behinderung zu haben, der Mann dagegen nicht. Wir sahen den beiden hinterher und er sagte folgenden Satz: „Dafür müssen wohl beide ein bisschen verrückt sein.“ Damals dachte ich, dass Ian hoffentlich auch ein bisschen verrückt ist, denn auch wenn man es mir unbedingt nicht anzieht, ich kann manchmal ganz schön abgedreht sein.
Schließlich riss mich der Glockenschlag des Doms aus einer Art Trance heraus und in die Wirklichkeit zurück – ich begann mir Sorgen zu machen, wie spät es wohl wäre. Und zu meinem verblüffen war es schon neun Uhr. Wir machten uns also auf zum Bahnhof, denn ich hatte Hunger. Und wenn ich Hunger habe, dann esse ich Nudeln im Bahnhof. Ian dagegen hatte noch nie Nudeln im Bahnhof gegessen. Daher beschloss ich ihn nicht gleich mit der Kunst des Stäbchenessens zu überfordern, sondern ihn zunächst ins Essen von Nudeln mit nur einer Gabel einzuweisen. Wir sahen uns nicht allzu viel an, denn wir beide hatten dringend eine Serviette nötig...
Dann war es soweit. Ich musst mich langsam auf den Heimweg begeben und wir steuerten die Haltestellen an. Ich erinnere mich noch, wie enttäuscht ich war, als er sich viel zu schnell wieder aus unserer Umarmung löste. Und ich in den Bus einstieg.
Und dann fuhr ich. Einfach so fuhr der Bus, als wäre es ein ganz normaler Tag und ein ganz normaler Bus gewesen, dabei schwebte ich doch viel mehr gen Heim, als dass ich unsanft auf dem harten Bussitz hin und her geworfen wurde..
Und nach Hause begleitet wurde ich von „With Me“ von Sum 41. Malas Lieblingsband.