Mittwoch, 13. April 2011

Dienstag, 12.04.2011: Jetzt enden – oder noch zehn Jahre weiterlügen?

Scheiße!, denke ich und drücke - oder besser schlage - wieder auf den Ausschalter meines Weckers. Ich bleibe noch einige Sekunden liegen, genieße die Wärme und ermuntere mich dann mit der Aussicht auf eine heiße Dusche, aufzustehen. Gähnend ziehe ich mich hoch und setzte die Füße auf den Boden. Ein Atemzug, dann durchfährt es mich wie der sprichwörtliche Geistesblitz. Ich sehe alles noch vor mir:
Er steht nur ein paar Meter von mir entfernt und trägt einen schwarzen Anzug und eine grüne Krawatte, die ihm überraschend gut steht. Seine braunen Haare schimmern in der Sonne und seine Augen sprühen. Er ist so schön, und er sieht mich an. Einen Augenblick später sehe ich mich plötzlich auf ihn zu rennen, in einem hellen Sommerkleid, schaue uns zu, während ich lachend auf ihn zu renne und ihm um den Hals falle, wie er mich herumwirbelt. Es ist die Schlussszene eines kitschigen Liebesfilmes, in dem sie sich am Ende doch noch kriegen und auf einer Blumenwiese aufeinander zulaufen – nur, das wir die gewöhnlichen Steinplatten des Bürgersteigs unter unseren Füßen haben. Es ist alles so perfekt: Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, wir lachen uns an, die Liebe in den Augen, durch die er mich ansieht – mich allein. Aber es ist eben genau wie in einem Film. Dem außenstehenden Betrachter mag alles sehr authentisch erscheinen, doch in Wirklichkeit ist alles nur gespielt. Eine Lüge. Und während ich auf ihn zu renne und ihm um den Hals falle, weiß ich das. Ich weiß es so genau und trotzdem tue ich weiter so, als wäre alles echt, denn ich wünsche mir ja so sehr, dass es das noch wäre.
Wir sind auf dem Weg zum Waschsalon in dem Viertel meiner Stadt, in dem ich aufgewachsen bin. Als ich von hier weggezogen bin, war an dieser Stelle zwar noch ein anderes Geschäft, aber die kommen und gehen. Wie alles eben. Und zugegeben, es ist wirklich ein sehr merkwürdiger Waschsalon. Das Merkwürdigste ist aber, dass es keine Waschmaschinen gibt. Hinter der Theke stehen zwei Männer mit dunklen Haaren und gestreiften Hausfrauenschürzen, doch sie kümmern sich gar nicht um uns, und auch nicht um die anderen Kunden. Ein paar Männer fragen mich nach dem Weg zum Klo, ich zeige in die ausgeschilderte Richtung, aber ein Mann erwidert, dass dort nur die Damenstiletten seien. Ich zucke mit den Schultern und wende mich wieder den beiden Männern hinter dem Tresen zu. Schließlich müssen die ja wissen, wo das Klo ist, und außerdem will ich jetzt endlich die Ringe abholen. Hm, Toiletten gibt es hier nicht für Herren, nur Waschbecken, sagt der eine beschürzte Mann. Als ich mein zweites Anliegen vorbringe, breitet sich ein fettes Grinsen auf seinem Gesicht aus und er reicht unter die Theke. Er holt ein kleines schwarzes Samtkästchen hervor uns gibt es mir. Wir gehen wieder.
Dieses Mal gehen wir zu der besten Freundin meiner Mutter. Sie wohnt nicht weit vom Waschsalon und wir sind dort eingeladen. Der Tag ist immer noch genauso schön, aber plötzlich ist die Stimmung gedrückt. Ich schiele rüber zu ihm, aber er geht plötzlich granicht mehr so stolz in seinem Anzug, sieht auf den Boden. Auch später, als wir im Garten dieser Freundin sitzen, an einem Holztisch und auf einer Bank aus einem halben Baumstamm, spüre ich... das er nicht will. Er will mich nicht heiraten, er liebt mich nicht. Eine Welle der Enttäuschung durchfährt mich, doch dann muss ich mir eingestehen, dass es mir genauso geht. Ich weiß, dass ich ihn geliebt habe – sehr sogar – aber das kann ich nicht mehr. Ich habe ihm so oft etwas vorgespielt, mir sooft etwas vorgespielt, dass das Reale irgendwann zum Imaginären wurde. Ich würde so viel dafür geben, das wieder rückgängig zu machen, aber ich kann nicht, bin schon auf der Suche nach etwas Anderem. Ich sehe ihn auf der Bank sitzen, mit der schwarzen Samtdose in Händen, der Dose, die unsere Trauringe enthält und ich weißt, dass er mich nicht heiraten möchte, mich aber heiraten wird.
Ich stelle mir vor, wie wir in zehn Jahren nebeneinander sitzen, irgendwo. Ich, mit einer gestreiften Hausfrauenschürze um, glatt und brav geschniegelt – genau so normal und durchschnittlich wie ich es nie sein wollte. Und neben mir, Ian, immer noch genauso traurig, mit Ringen unter den Augen und einer Bierflasche in der Hand, schweigend, aber weniger bemüht, die Fassade aufrecht zu erhalten. Und es ist immer noch genau dasselbe Spiel. Nur dass ich mich inzwischen in diese Lüge meines Selbst verwandelt habe – ebenso, wie sich einst meines Liebe in eine Lüge verwandelte.

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