Heute ist so viel passiert, dass es zu viel zu sein scheint, um nur einen einzigen Tag zu füllen, dabei habe ich die meiste Zeit abgewaschen oder geputzt. Ich habe dabei viel nachgedacht, doch wenn ich jetzt sagen müsste, worüber, so könnte ich es nicht. Meine Gedanken sind, wie der Merkur, in engen Kreisen immer um die selben Themen rotiert, doch nie zu einem Ergebnis gekommen. Meistens jedoch, glaube ich, drehten sie sich um das Schlechte in meinem Leben und das ist wahrscheinlich der entscheidende Punkt.
Immer war ich diejenige, die für andere da war, immer habe ich andere getröstet, ihnen ihre Sorgen von den Lippen abgelesen. Und jetzt brauche ich selber jemanden, der für mich da ist. Ich will nicht erst in Tränen ausbrechen, oder mich ritzen müssen, um jemanden auf mich und meine Probleme aufmerksam zu machen. Aber genau das habe ich heute getan.
Zuerst bin ich in Tränen ausgebrochen. Schuld daran war der Hass. Das heißt eigentlich nur indirekt.
Stell dir vor, du putzt den ganzen Tag wie eine Irre das Haus und dann bekommst du nur zu hören, was du alles falsch gemacht hast. Es heißt „Mach dies, mach das“, oder am besten alles gleichzeitig. Und weil du nicht weißt, welcher Aufgabe du vorrangig verpflichtet bist, kommt es zu Streit. Wobei Streit übertrieben ist. Eigentlich wirst du nur angeschrien, ohne dass du zu irgendeiner Erwiderung kommst, die nicht unter weiterem Geschrei erstickt wird, dessen einziger Inhalt zu sein scheint, wie scheiße du doch bist. Und am Ende wird dir vorgeworfen, dass du gar nicht willst, dass deine Mutter ihren Lebensgefährten heiratet. Obwohl das gar nicht stimmt.
Du hast den ganzen Tag dafür gearbeitet, dass die Feier in zwei Tagen schön wird. Du hast ihnen einen Song geschrieben, zur Hochzeit. Und dann kommt dieser Vorwurf und du merkst, wie wenig all das Wert ist.
So ging es mir heute. Ich konnte nicht mehr. Ich kann diesen puren Hass nicht ab. Schon gar nicht, wenn er durch eine selbst erdachte Anschuldigung begründet ist, die es mir mit keinem Mittel zu widerlegen möglich ist, weil die Richtigkeit in Person sie aufgestellt hat. Ich konnte einfach nur noch heulen und abhauen, so wie er es mir hinterher geschrien hatte.
Ich riss die Tür auf und schleuderte sie gleich wieder hinter mir zu, dass das ganze Haus zu beben schien. Ich sah mich um und rannte auf das erste Versteck zu, dass ich sah: das Gewächshaus. Das Gewächshaus sah fürchterlich aus, ungefähr so, wie ich mich fühlte. Die vertrockneten Pflanzen vom letzten Jahr hingen tot von ihren Stützen. Irgendjemand hatte sie angepflanzt, nur um sie, kurz bevor sie Früchte getragen hätten, aufzuhören, sie zu gießen.
Ich hockte mich ans Ende der Steinplatten, die durch das Gewächshaus führten, legte den Kopf auf die Knie und heulte, was das Zeug hielt. Ich sah meine Tränen auf den Sand tropfen, der die Steine bedeckte, und über den kleine rote Käfer wuselten. Einer blieb stehen und streckte seine Fühler nach mir aus, dann krabbelte er weiter.
Meine Tränen versiegten viel zu schnell. Ich wünschte mich, ich hätte noch mehr weinen können, aber in den letzten Monaten war ich einfach viel zu kalt geworden. Und über allem lag der Schleier dieses schlimmsten Gefühls. Das schlimmste Gefühl ist nicht, gehasst zu werden. Hass ist ein vergleichsweise kleines Problem, wenn du jemanden hast, der neben dir steht. Das schlimmste Gefühl ist, nicht geliebt zu werden, dass dir niemand beisteht, du dem Hass schutzlos ausgeliefert bist.
Deine Mutter, die mit einem einsilbigen Kommentar zur Kenntnis nimmt, dass du nicht mehr mit deinem Freund zusammen bist und sich wahrscheinlich insgeheim denkt, dass es ja in deinem Alter sowieso nie so lange hält. Oder, dass es schon nicht so schlimm sein wird, solange du nicht heulend am Boden liegst. Dabei tue ich das ja. Sie sieht es nur nie. Weil sie nicht da ist.
Irgendwann musste ich wieder ins Haus, aber ich nahm den Hintereingang. Nachdem ich vier Mal zaghaft gegen die Tür geklopft hatte, machte meine Schwester mir auf. Ich war ihr unendlich dankbar, dass sie es war.
Niemand sah mein Gesicht, das sicher feuerrot war, als ich so schnell ich konnte die Treppe zu meinem Zimmer hoch lief. Ich weiß nicht wie, oder warum ich wirklich zielstrebig auf meinen Schreibtisch zuging, nach meiner Schere griff, ohne zu zögern und sie auf meiner haut hin und her fahren ließ. Ich hatte immer geglaubt, dass ich dazu nie in der Lage wäre, aber ich hatte mich wohl in mir getäuscht. Vielleicht ist jeder Mensch irgendwann dazu fähig, auch jene, die wie ich eigentlich zu der glücklichen Fraktion gehören, wenn sich nur der eine passende Situation ergibt, in denen die Gefühle offen liegen und man intuitiv handelt ohne nachzudenken.
Ich muss sagen, dass ich wirklich überrascht war, als ich plötzlich Blut sah. Ich hätte nie gedacht, dass es so einfach geht, wenn man nur mit genügend Entschlossenheit handelt. Vielleicht ist es im leben ja auch so, denke ich jetzt.
Als ich das Blut sah, war ich zufrieden. Es musste gar nicht wehtun, eigentlich hatte ich mich ja gar nicht richtig dafür entschlossen. Ich ging zu meinem Schmuckkästchen, das noch aus der Zeit stammte, als die Bösen noch böse und die Guten noch gut gewesen waren, und suchte nach einem möglichst breiten Armband, auch wenn es relativ unwahrscheinlich war, dass es überhaupt irgendjemand bemerken würde. Ich fand eine silberne Uhr, die ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr getragen und deren Zeiger auf kurz nach halb zehn stehen geblieben waren. Doch auch das würde keiner bemerken. Sie tat ihren Job dennoch ziemlich gut, auch wenn die Wunde – so klein sie auch war – nach einiger zeit unter dem Armband zu brennen anfing.
Als ich wieder an der Spüle stand, erschrak ich vor mir selbst, als ich so darüber nachdachte, was ich gerade eben getan hatte. Die Wunde war nichts Ernsthaftes. Es waren drei dünne Striche, von denen der eine beinahe nicht zu sehen war und die längs und außerdem viel zu weit unten verliefen, als dass sie irgendeine Gefahr für mich bedeutet hätten. In ein paar tagen würde von ihnen nichts mehr zu sehen sein.
Aber darum ging es nicht. Es ging um's Prinzip. Ich hatte schon oft Hass auf mich selbst gehabt, aber er war nie so tief vorgedrungen, als dass er gereicht hätte, um über eine Dauer von mehreren Tagen sichtbar zu bleiben. Das erschrak mich. Es kam mir vor, als wäre ich in eine Rolle gerutscht, die nicht die meine war. Um mich herum war plötzlich alles dunkel, nichts war mehr bunt wie früher und meine Stärke hatte sich in Kälte verwandelt.
Du merkst es schon, es war einer von diesen Boden-Momenten, in denen du nicht daran glaubst, jemals wieder aufstehen zu können. Aber genau dieser Glaube hatte mich immer stark gemacht. Ich weiß, dass alles aus mir selbst kommt. Ich kann anders handeln, ich muss mich nur dafür entscheiden. Aber wenn ich mich gegen diesen heutigen Weg entscheide, welchen soll ich dann nehmen? Es scheint alles so gleichgültig zu sein...
Morgen werde ich etwas anders machen. Alles wird sich mit mir verändern. Wenn auch nur kaum merklich, werde ich mich weiterhin auf mein Ziel zu bewegen – allein.
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