Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und mit jedem Meter, den er rollte, brachte er mich weiter weg von meinem Leben. Jedenfalls von meinem Leben in Deutschland. Die nächsten drei Wochen würde ich alles hinter mir lassen. Den Stress mit dem überempfindlichen Freund meiner Mutter, den Leistungsdruck in der Schule und auch meinen uninteressierten „Nicht-Mehr-Lang'“-Freund – all' das blieb neben meiner winkenden Familie auf dem Bahnsteig zurück.
Ich ließ mich in meinem Sessel zurück sinken. Auf dem Nebensitz quetschten sich zwei meiner besten Freundinnen, Lala und Lulu. Sie hatten sich vor der Abfahrt noch schnell eine Bravo am Bahnhofskiosk gekauft und ließen sich jetzt die niveaulosesten Artikel zusammen mit den Sckokobonschen auf der Zunge zergehen. Gegenüber saßen – ebenfalls eng zusammengedrückt – Sylvia, Mella und Joe. Sissi hatte sich gleich nachdem wir uns hingesetzt hatten , ihre Kopfhörer aufgesetzt und musterte jetzt mit einem abschätzenden Blick ihre Fingernägel, als würde sie darüber nachdenken, ihren Drei-Pfund-Koffer von der Gepäckablage zu hieven und sie auf der Stelle neu zu lackieren. Mella saß auf dem Übergang zwischen zwei Sesseln und beklagte sich abwechselt über ihren unbequemen Platz und darüber, dass sie ihre Gitarre hatte zurücklassen müssen und wahrscheinlich drei Wochen nicht würde üben können. Neben ihr saß Joe, in den sie lange Zeit verliebt gewesen war. Ihre Romanze hatte jedoch zu ihrem größten Unglück ein jähes Ende genommen, als sie ihm ihre Liebe gestanden hatte. Joe kannte ich am schlechtesten. Er war nicht nur der einzige Junge, sondern auch noch als einziger nicht in meiner Klasse und daher noch relativ still, was sich aber bald legen sollte.
Wie ich also so da saß und meine Freunde der Reihe nach musterte, wurde mir klar, dass es nicht viel gab, was ich wirklich vermissen würde. Meine Mama würde ich vermissen, meine Gitarre und meine Freundin Mera, die ich in der sehr schwierigen Phase nach der Trennung von ihrem Freund hatte allein lassen müssen. Aber das ist eine andere Geschichte und soll an einer anderen Stelle erzählt werden.
Wir nahmen den Samstags-Zug um 19:20 Uhr und kamen gegen 21:45 Uhr in Hannover an, wo wir in unseren Nachtzug umsteigen würden. Zunächst stürmten wir jedoch – mit Ausnahme von Joe und Mella, die sich noch nie sehr für Dinge wie Schmuck und Taschen interessiert hat – den Assezorize im Bahnhof, da wir so was zu Hause ja leider trotz eingehender Proteste immer noch nicht hatten. Bald überwog unser Hunger jedoch und da unser Zug bereits um 22:16 Uhr wieder fahren würde, machten wir uns auf die Suche nach etwas Essbarem. Nur Mella war ausnahmsweise ausgezeichnet vorbereitet und hatte sich sogar ihr eigenes Rührei inklusive Salzstreuer mitgebracht.
Nachdem wir den Bahnsteig mindestens zwei Mal abgelaufen hatten, da wir zunächst die falsche Richtung eingeschlagen hatten und somit auch am falschen Ende angekommen waren, stiegen wir endlich – gerade noch rechtzeitig – in den Zug, der uns bis zum nächsten Morgen in die Stadt der Liebe, nach Paris bringen sollte.
Unser Abteil war so winzig, dass man es wahrscheinlich noch nicht mal für einen Kanarienvogel artgerechte Haltung hätte nennen können. In der Mitte führte ein schmaler Gang zum Fenster, links und rechts davon befanden sich jeweils drei brettartige Liegen, bei deren bloßem Anblick ich schon Rückenschmerzen bekam. Da es jedoch enorm an Platz mangelte, weil alle gleichzeitig in das Abteil stürmten, ihre Schuhe über den Fußboden verstreuten und Mella und Lala außerdem noch nicht ganz platzsparend versuchten, das Fenster zu öffnen, kletterte ich schließlich doch auf meine Liege in der Mitte der linken Regalreihe. Zu meiner eigenen Überraschung fand' ich's geil! Es war auch gar nicht so unbequem, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Als sich alle einigermaßen vom Einstiegs-Stress erholt hatten, richtete sich bald die allgemeine Aufmerksamkeit auf Lala und Mella, die immer noch vergeblich versuchten das Fenster zu öffnen, welches allerdings gar nicht daran dachte, sich auch nur einen Nanometer von der Stelle zu rühren. Doch auch dieses Problem lösten wir bald mit dem genialen Tipp eines desinteressierten Bahnangestellten, der uns erklärte, wir sollten das Fenster einfach herunter ziehen. Danke! Darauf wären wir echt von allein nicht gekommen!
Schließlich, als wir auch den letzten Koffer in diese Sardinendose von Abteil gequetscht hatten, konnte uns nichts mehr dort drin' halten. Schnell entdeckten wir die Fenster auf dem Gang für uns. Man konnte sie bis zu ihrer Hälfte hinunter ziehen und seinen Kopf hinaus strecken. Diese Aktion muss ich übrigens bei Gelegenheit unbedingt noch zu meiner Liste von unterhaltsamen und faszinierenden Singen hinzufügen – wirklich, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie witzig das war. Bei geschätzten 200 km/h die Haare im Wind zerzausen lassen und die Welt an sich verbeisausen sehen, den Blick auf den Sternenhimmel über dir gerichtet, der dir immer wieder in Erinnerung ruft, wie klein du wirklich bist – so groß du dich auch in diesem Augenblick fühlen magst.
Irgendwie und irgendwann landeten wir dann aber doch alle im Bett – diesmal hatte aber jeder sein eigenes. Es war eng und ich habe mir mindestens ein Mal den Kopf an Lulus Liege über mir gestoßen, aber das Gefühl war großartig. Great feeling! Die Nacht in diesem doch relativ unbequemen engen Bett und ohne richtigen Luftaustausch gehört wohl zu den tollen Erfahrungen, deren Großartigkeit sich nicht wirklich erklären lässt.
Als ich um 7:45 Uhr nicht mehr weiter schlafen konnte, beschloss ich, den Tag für mich mit einem Frühstück zu beginnen, auch wenn alle anderen noch schliefen. Ich entschied mich jedoch gegen die „Heißen Muntermacher“ und „Stärkendes Am Morgen“, das auf der Speisekarte der DB angeboten wurde und für mein mitgebrachtes Essen. Mit anderen Worten: Mein frühstücke bestand aus Apfel, Keks und Wasser.
Gegen acht Uhr befand ich es außerdem für allerhöchste Zeit, die anderen zu wecken. Ich warf Mella, die weiter unten gegenüber von mir schlief, ein Kopfkissen ins Gesicht und krähte: „Aaauuuuuuuufsteheeeen! Es ist soweit, in 23 Minuten sind wir in Parihiiis!“ Das dachte ich zumindest. Lala reagierte als erstes und fragte: „Was?! Wie spät ist es denn?“ Lulu antwortet über mir: „Acht Uhr.“ „Chillt, dann haben wir doch noch eine Stunde und 23 Minuten!“, beruhigte Lala alle wieder. „Oh!“, machte ich nur und versank unter dessen irgendwo unter meiner Decke. Es war so typisch für mich, alle eine Stunde zu früh zu stressen, wenn ich aufgeregt war.
Da alle – bis auf John, der die ganze Aufregung verschlafen hatte – jedoch danach schon hell wach waren, ließen wir uns Zeit mit dem Aufstehen, packten unsere Sachen und zogen widerwillig unsere Klamotten an. Was hätte ich in diese Augenblick für eine Dusche gegeben!
Am Bahnhof empfingen uns Lulus Austauschschülerin und deren Mutter und führten uns durch ein Gewirr von Gängen und nicht ohne ein Mal in die falsche U-Bahn zu steigen, zu unserem Anschlusszug, der von einem weiteren Pariser Bahnhof abfuhr und uns nach Orléans brachte. Die ganze Zeit musste ich meinen vollen Koffer mit Sachen für drei Wochen schleppen, da seine Rollen in Folge von Altersschwäche nachgegeben hatten. Das war eher mäßig geil und ich war heil froh, als ich ihn schließlich in das Auto meiner Familie hieven konnte.
Mit mir kamen noch Mella für den ersten Tag und Sylvia für die erste Woche, weil ihre Austauschpartnerinnen noch im Urlaub waren. Mella mochte ich gerne, aber ich war mir noch nicht ganz sicher, ob ich mich auf die gemeinsame Zeit mit Sylvia wirklich freuen konnte. Sie war wohl schon immer ein sehr selbstverliebter Mensch. Das soll jetzt nicht so negativ klingen, wie es sich anhört, denn sie kann dennoch ganz nett sein. Aber es kann eben auch mega anstrengend sein, wenn jemand überwiegend an sich selbst denkt.
Auf der Fahrt zum Haus meiner Austauschpartnerin Alina, die natürlich auf dem Land lebte, fragte uns der Vater, der aufgrund seiner deutschen Verwandtschaft sehr gut Deutsch beherrschte, über unsere Reise und unsere Familien aus. Und auch, wenn er mir im ersten Augenblick eher unsympathisch gewesen war, musste ich zugeben, dass ich ihn ganz nett fand.
Zu Hause angekommen begegneten wir dann auch noch der Mutter und dem Bruder, Abel, sowie dem Cousin, Erwin, der eindeutig ein Bubi-Player war. Ich schielte zu Sylvia rüber und konnte ein Würgen nicht unterdrücken, als sie ihn schon jetzt musterte, wie ich einem Schokokeks in die Augen gesehen hätte. Mein Gott, ein Mädchen mit einer solch langen Playerliste gibt es wohl wirklich nur selten.
Den Rest des Tages verbrachten wir mit Tischtennisspielen und Essen. Wirklich, ich glaube, die Mutter stand den ganzen Tag in der Küche, nur um uns ein Willkommens-Festessen servieren zu können. Besonders witzig fand ich, dass vor dem Nachtisch und nach dem Hauptgang, bzw. den Hauptgängen, wirklich „Fromage“, also Käse gegessen wurde. Ich hatte das immer für ein Gerücht gehalten. Hoffentlich würden die hier nicht auch noch auf die Idee kommen, mich mit Schnecken zu füttern...